Die feine senkrechte Linie auf ihrem Oberkörper hat Vivien, seit sie im Alter von neun Monaten in der Uniklinik Tübingen am offenen Herzen operiert wurde. Zunächst war gar nicht aufgefallen, dass etwas nicht stimmt, so einen putzmunteren Eindruck habe sie nach Aussage ihrer Mutter gemacht. Doch bei der U3, der Neugeborenen-Untersuchung in der vierten bis fünften Lebenswoche, folgt der Schock für ihre jungen Eltern, deren erstes Kind sie damals ist. Atrioventrikulärer Septumdefekt (AVSD) lautet die Diagnose – eine Kombination mehrerer Herzfehler, die eigentlich typisch ist für Kinder mit Trisomie 21. „Mein Herz sah wohl nach einer ganz ordentlichen Hülle aus“, so beschreibt Vivien es, „aber innen drin war es missgebildet, die Klappen verdickt und verengt und außerdem Löcher, wo keine hingehören“. Die Ärzte hatten die schwere Operation so lange wie möglich hinausgezögert, um das nur walnussgroße Herz sich ein wenig entwickeln zu lassen, doch schließlich ist ein Punkt erreicht, ab dem das Risiko des Wartens überwogen hätte. Die OP gelingt, fast alle Fehlbildungen können behoben werden. Viviens früheste eigene Erinnerung ist die an eine Mutter-Kind-Kur in Passau, da war sie drei Jahre alt und ihre Mutter 28.
Vivien hat eine schöne Kindheit, ist aktiv und spielt am liebsten draußen. Sie genießt alles, was sie mitmachen kann und darf, will auf keinen Fall in Watte gepackt werden. Sogar Ballett und Bodenturnen gehören irgendwann zu ihren Hobbies. Die Eltern ermahnen sie hier und da, sich nicht zu überanstrengen, daran hält sie sich. Medikamente muss sie nicht nehmen und die regelmäßigen Kontrollen beim Kinderkardiologen sind Routine. Doch ihr Leben verändert sich abrupt, als sie siebeneinhalb ist: Da wandert die inzwischen vierköpfige Familie – Vivien hat noch einen Bruder bekommen – nach Spanien aus. Fortan lebt sie an der Costa Brava, eine Stunde entfernt von Barcelona. „Das war schon knackig, ich musste Spanisch und Katalanisch zugleich lernen“, erinnert sie sich. Doch was sich vor allem ändert, ist ihr Ansehen bei Gleichaltrigen. „Ich war halt die aus dem Ausland und wurde eh schon komisch angeschaut mit meinen deutsch-spanisch-kroatischen Wurzeln, und dann hatte ich noch eine Brille und diese komische Narbe“. Am schlimmsten ist das Mobbing während Viviens Teenager-Zeit. Sie kennt keinen einzigen anderen Menschen ihres Alters mit angeborenem Herzfehler, hat das Gefühl, die einzige Betroffene zu sein, hässlich und minderwertig. Dazu noch die ständig drohende Gefahr durch das schnelle Wachstum von Körper und Herz in dieser Phase, das dazu führen kann, dass eine OP-Naht reißt oder die Herzklappe sich so verzieht, dass eingegriffen werden muss. Und tatsächlich: Als Vivien 15 oder 16 ist, sind die Ärzte kurzzeitig überzeugt, dass es nun so weit ist und sie eine künstliche Klappe braucht. Bis eine Herzkatheteruntersuchung zeigt, dass es sich um einen Fehlalarm handelt, steht das Mädchen schwerste Ängste aus.
Fernweh, Heimweh, Sehnsucht
Immerzu diese Unsicherheit, wo sie nun eigentlich hingehört, Vivien wird das Gefühl nicht los, entwurzelt zu sein. So geht sie mit 18 Jahren, nach dem spanischen Abitur, allein zurück nach Böblingen, um sich zu sortieren, macht zunächst ein Freiwilliges Soziales Jahr im Kindergarten. Ihr eigentlicher Traum ist es, Kinderkardiologin zu werden, doch ihr spanischer Schulabschluss wird von deutschen Unis nicht anerkannt. Um überhaupt mit Kindern zu arbeiten, beginnt sie eine Ausbildung zur Erzieherin. Zugleich verspürt sie den Drang, sich endlich mit ihrer Erkrankung zu beschäftigen. Gezielt geht sie, die früher nie andere Herzkinder kannte, auf die Suche nach EMAH (Erwachsene mit angeborenem Herzfehler). Im Internet stößt sie auf eine wachsende Gruppe netter Leute, mit denen sie sich austauscht. Endlich kann sie offen reden mit diesen Gleichgesinnten, wird verstanden und kommt nach und nach mit sich ins Reine. Der angeborene Herzfehler ist nun kein Tabu mehr. „Mein Selbstempfinden hat sich in dieser Zeit komplett geändert“, erinnert sich Vivien, „ich konnte plötzlich über meinen Schatten springen und mich so akzeptieren, wie ich bin“. Zu Einzelnen aus der Gruppe von damals hält sie noch heute Kontakt.
Vivien geht es gut in Deutschland, doch mit der Zeit wächst das Heimweh, diesmal nach der spanischen Costa Brava, nach Meer, Sonne und dem Leben draußen unter freiem Himmel. Einfach wieder zurück gehen kann und will sie aber gerade nicht, denn inzwischen hat sie Tim kennengelernt und möchte der Beziehung mit ihm auf jeden Fall eine Chance geben. Ebenso ihrem alten Traum von der Arbeit im Krankenhaus: Sie wagt nochmal den Neustart, gibt ihre Festanstellung als Erzieherin auf und beginnt eine Ausbildung zur Krankenschwester. Nach den Behörden ist es diesmal die Corona-Pandemie, die sie ausbremst: „Ich wurde immer wieder zu Covid-Patienten geschickt“, berichtet sie, „ohne jede Rücksicht darauf, dass ich Risikopatientin bin“. Nachdem ihre Vorgesetzten im Krankenhaus nicht mit sich reden lassen, gibt Vivien die Ausbildung auf, das gesundheitliche Risiko ist ihr zu groß. Wenig später deutet Tim an, er könne sich eine grundsätzliche Veränderung gut vorstellen, ein Leben in Spanien etwa. Die beiden heiraten noch standesamtlich in Deutschland, dann ziehen sie gemeinsam an die Costa Brava. Vivien nimmt einen Job in der Reisebranche an und modelt nebenbei, Tim arbeitet für ein deutsches Unternehmen in Barcelona.
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Angekommen, in jeder Hinsicht
Inzwischen denkt das Paar gelegentlich über Nachwuchs nach. Längst hat Vivien checken lassen, ob ihrem Herzfehler eine genetische Veranlagung zugrunde liegt. Nein, er ist definitiv eine Laune der Natur. Wegen der verblüffenden Ähnlichkeit ihrer Fehlbildungen zu denen, die Kinder mit Trisomie 21 typischerweise aufweisen, haben die Genetiker besonders genau hingeschaut, sie ist ein seltener Fall. Einmal pro Jahr geht sie außerdem zur regulären kardiologischen Kontrolle wegen des einzigen Überbleibsels ihrer Herzerkrankung: Nach wie vor schließen die Aorten- und die Mitralklappe nicht vollständig, wodurch Vivien einen höheren Blutdruck hat als Gleichaltrige. Einer Schwangerschaft würde dies nicht im Wege stehen. Dennoch will sich das Paar noch ein wenig Zeit lassen zum weiteren Einleben in Spanien. Beide haben gut zu tun und Vivien investiert neben der Arbeit viel Zeit und Freude in ihre Instagram-Präsenz. Unter @vivien_lara teilt sie heute nicht mehr nur ästhetische Model- und Reisefotos, sondern thematisiert auch zunehmend ihren Herzfehler. „Mir ist wichtig, dass endlich mehr vermeintliche gesellschaftliche Tabu-Themen auf social media gezeigt werden“, erklärt sie, „und ich möchte andere Herzpatienten motivieren, ihre Geschichte ebenfalls zu erzählen“. Denn durch Offenheit und Austausch, ist sich Vivien aus Erfahrung sicher, fühlt man sich besser.
Diagnose und aktuelle Situation
Vivien kam vor 31 Jahren in Böblingen in der Nähe von Stuttgart zur Welt. Erst bei der U3 wurde festgestellt, dass sie an einer Kombination angeborener Herzfehler leidet, dem Atrioventrikulären Septumdefekt (AVSD). Im Detail wurden bei ihr Ventrikelseptumdefekte, eine Aortenklappenstenose, Aorteninsuffizienz, Trikuspidalklappeninsuffizienz, Mitralklappenvitium und ein AV Block ersten Grades diagnostiziert. Durch diese Fehlbildungen kam es zur übermäßigen Belastung des Herzens und einem erhöhten Blutfluss in die Lungengefäße. Im Alter von neun Monaten wurde das Mädchen erfolgreich am offenen Herzen operiert. Seitdem führt Vivien ein Leben weitgehend ohne Einschränkungen, musste nur während der Wachstumsphase ihrer Teenagerzeit achtgeben, sich nicht zu überanstrengen. Sie benötigt keine Medikamente, geht aber regelmäßig zur kardiologischen Untersuchung, weil aufgrund der nicht vollständig schließenden Aorten- und Mitralklappe ihr Blutdruck erhöht ist. Dies stellt kein Problem dar, so lange es ihr gut geht. Heute lebt sie in Spanien, wo die Ärzte ihr kürzlich grünes Licht für eine Schwangerschaft gegeben haben.