Nico: Sonnenschein mit Shone-Komplex

Nico hat schon einiges an Erkrankungen, Behandlungen und Rückschlägen weggesteckt in seinem jungen Leben. Dennoch war er schon immer ein absolut zufriedenes und dankbares Kind. Mit seinem Herzfehler und der Tatsache, dass er irgendwann noch einmal operiert werden muss, geht er ganz offen und selbstverständlich um.

So ganz genau erinnert sich Bettina nicht mehr, warum sie eigentlich in der 13. Schwangerschaftswoche zur Nackenfaltenmessung gegangen ist. „Wahrscheinlich wollten wir einfach nur hören, dass unser Kind gesund ist“, sagt sie. Doch eine Auffälligkeit am Herzen lässt die Pränataldiagnostikerin stutzen. Als die Untersuchung zwei Wochen später wiederholt wird, lautet die niederschmetternde Diagnose: Hypoplastisches Linksherz. Bettina ist Krankenschwester, doch von diesem angeborenen Herzfehler, einem der schwersten, hat sie bis dahin noch nie gehört. Sie und ihr Mann Markus sammeln alle Informationen, die sie bekommen können. Innerhalb der nächsten zwei Wochen sollen sie entscheiden, ob sie die Schwangerschaft fortsetzen wollen. Für die beiden gar keine Debatte, sie wollen. So gehen sie auch nicht das Risiko der mehrfach angeratenen Fruchtwasserpunktion ein, das Ergebnis würde für sie nichts ändern.

Alle 14 Tage geht Bettina nun zur Kontrolle, in der 22. Schwangerschaftswoche dann eine riesige Überraschung: Auf einmal ist ein Blutfluss in der bis dahin unsichtbaren linken Herzhälfte zu sehen! Das erlebt auch die erfahrene Diagnostikerin zum allerersten Mal. Sie kann zwar dennoch kein grünes Licht geben, dass Nico herzgesund zur Welt kommen wird, das hypoplastische Linksherz aber ist nun ausgeschlossen. Bettina und Markus atmen ein wenig auf, aber die Sorge durch die Ungewissheit bleibt. In Schwangerschaftswoche 40 leiten die Ärzte in der Frauenklinik Erlangen die Geburt ein, denn nichts deutet darauf hin, dass der kleine Nico sich von selbst auf den Weg machen wird. Und dabei bleibt es, er kommt schließlich zweieinhalb Tage später per Kaiserschnitt zur Welt.

Nico

Turbulenter Start ins Leben
Zunächst scheint alles in Ordnung und Bettina darf ihren kleinen Sohn in der ersten Nacht sogar zu sich aufs Zimmer nehmen, angeschlossen an einen Überwachungsmonitor. Am nächsten Morgen dann überschlagen sich die Ereignisse: Nico weint und schreit, er lässt sich nicht beruhigen und seine Arme und Beine verfärben sich blau. Bevor Bettina und Markus realisieren können, was los ist, wird er schon auf die Intensivstation der Kinderkardiologie verlegt. Das hauptsächliche Problem ist aktuell die Aortenisthmusstenose (ISTA), durch diese Verengung der Körperschlagader wird die linke Herzkammer überlastet und der kleine Körper nicht ausreichend durchblutet. Um gegenzusteuern und Zeit zu gewinnen, halten die Ärzte Nicos Ductus Arteriosus (eine Gefäßverbindung, die sich sonst nach der Geburt von selbst schließt) mittels eines Medikaments offen. Tagtäglich wird nun neu entschieden, ob operiert werden muss oder ob Nico erst noch ein wenig Gewicht zulegen kann, denn mit 2.850 Gramm ist er recht leicht.

Für die jungen Eltern eine schlimme Zeit: Sie fühlen sich hilflos, die Ungewissheit ist quälend, der Anblick ihres an Geräte angeschlossenen Babys auch. Dann fällt beim Neugeborenenscreening auch noch Nicos Hörtest negativ aus. Einen Grund sehen die Ärzte nicht, erst nach acht Wochen wird sich das Problem von selbst lösen. Bettina liegt im Wochenbett in der benachbarten Frauenklinik, tagsüber ist sie bei ihrem Sohn, darf ihn auf den Arm nehmen und mit ihm kuscheln. Ihre Muttermilch pumpt sie ab in der Hoffnung, dass sie Nico guttut und ihn stärkt. Als der Kleine zehn Tage alt ist, kann er tatsächlich auf die normale Kinderherzstation verlegt werden. Nach drei weiteren Tagen die überraschende Mitteilung: Es geht erstmal ohne Operation, die Familie wird nach Hause entlassen. Dort, in der Nähe von Nürnberg, versuchen Bettina und Markus, die neue Dreisamkeit zu genießen, doch die Angst um Nico ist ein permanenter Begleiter.

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Achterbahnfahrt der Gefühle
Nach fünf Tagen zu Hause wird Nico in Erlangen von einem niedergelassenen Kinderkardiologen per Ultraschall untersucht und der ist gar nicht zufrieden. Noch am Abend stellt er den Befund in der Gremiumssitzung der Kinderklinik vor und meldet sich früh am Morgen darauf: Anfang der nächsten Woche, in fünf Tagen, wird nun doch operiert. Den jungen Eltern zieht es den Boden unter den Füßen weg, doch sie wissen, das alles müssen sie nun aushalten. Es sind bange Stunden des Wartens, während Nicos ISTA durch eine End-zu-End-Anastomose korrigiert wird: Der Chirurg schneidet die Engstelle heraus und verbindet dann die intakten Enden der Aorta, bei Nico erfolgt der Eingriff durch einen Schnitt am Rücken. Die Operation gelingt, endlich dürfen Bettina und Markus zu ihrem Sohn auf die Intensivstation. Der wird schon nicht mehr künstlich beatmet. Doch obwohl die sedierenden Medikamente immer weiter heruntergefahren werden, wacht er nicht auf aus der Narkose. Für kurze Zeit steht der furchtbare Verdacht im Raum, dass Nico während der OP einen Hirninfarkt erlitten hat. Erst im Laufe der Nacht kommt er immer mehr zu sich. „Das war einfach furchtbar“, erinnert sich Bettina, „wir durften nicht dort sein und haben jede Stunde auf der Station angerufen“.

Am Tag nach der Operation beginnt Nico, schwallartig zu erbrechen. Das wird zunächst auf die Narkose geschoben, doch als das Problem über Tage anhält, ist klar, dass eine andere Ursache vorliegen muss. Und die hat rein gar nichts mit Nicos Herz zu tun: Er hat eine Pylorusstenose, auch bekannt als Magenpförtnerkrampf, eine Krankheit, die vor allem Jungen im Alter von drei bis sechs Wochen betrifft. Ein Muskel an der Verbindung von Magen und Darm verdickt sich und blockiert den Durchgang der Nahrung, daher das Erbrechen. Nico muss innerhalb einer Woche ein zweites Mal operiert werden und man merkt ihm die Strapazen an. Doch er erholt sich schnell und nach einer Woche darf die Familie nach Hause. Die Abstände zwischen den Kontrolluntersuchungen werden länger, eine wunderbare Zeit der Normalität bricht an.

Die Hoffnung ist, dass die verbliebenen Fehlbildungen an Nicos Herz sich mit dem Wachstum von selbst regulieren. Doch als der Junge ein gutes Jahr alt ist, entdeckt der Kinderkardiologe bei der Kontrolluntersuchung Koronarfisteln, abnorme rohrförmige Verbindungen im Herzen. „Wenn wir gar kein Glück haben, läuft es auf ein Spenderherz hinaus“, so der Arzt. Bettina und Markus schauen ihren fröhlichen Sohn an, dem es eigentlich doch gut geht, und sind fassungslos. Ein paar Wochen später ist Nico deutschlandweit das fünfte Kind, bei dem es gelingt, Koronarfisteln mit dem Herzkatheter erfolgreich zu verschließen! Die Eltern sind unendlich dankbar und schauen sich sogar das Video des Eingriffs an. „Es ist der Wahnsinn und gleichzeitig gruselig, was da getan und geschafft wurde, wirklich unglaublich“, sagt Bettina, die ihr Hintergrundwissen als Krankenschwester nicht immer als segensreich empfindet. Wieder bricht eine entspannte Phase an, diesmal dauert sie viereinhalb Jahre. In dieser Zeit kommen die Zwillinge Hanna und Leonie zur Welt, beide kerngesund (Nicos Herzfehler ist nicht genetisch) und zwei Jahre nach der Geburt ihres großen Bruders. Das Familienleben ist wunderbar!

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Vier Korrekturen in einer großen OP
Nico ist fünf Jahre und zehn Monate alt, als die große Korrektur-Operation dann doch erforderlich wird. An der Engstelle unterhalb der Aortenklappe hat sich wildes Fleisch gebildet, nun sollen möglichst alle noch vorhandenen Fehlbildungen des Shone-Komplexes auf einmal korrigiert werden – eine umfangreiche OP unter Einsatz der Herz-Lungen-Maschine. Es ist die Zeit der Corona-Pandemie mit ihren strengen Vorsichtsmaßnahmen. Für Bettina bedeutet das, dass sie diesmal ihr Kind früh um 7 Uhr ganz allein an der OP-Schleuse abgeben muss, sie weint bitterlich danach. Zusammen mit Markus versucht sie, die Zeit totzuschlagen, beide drehen unendliche Runden durch Erlangen und sehnen einfach nur den Anruf aus der Klinik herbei. Zwischen 12 und 13.30 Uhr soll der erfolgen, wurde im Vorfeld geschätzt, doch es passiert einfach nichts. Irgendwann kann Bettina nicht mehr warten: „Ich hatte Todesangst um mein Kind“, erinnert sie sich, „und wusste mir nicht mehr anders zu helfen als am Operationssaal zu klingeln“. Eine Schwester beruhigt, alles sei okay und der Arzt komme gleich zu ihnen. Es wird 16 Uhr, bis der Oberarzt dem Paar berichtet: Nico hat während der OP seinen Herzrhythmus nicht mehr gefunden und einen AV-Block dritten Grades erlitten, kein Impuls gelangt dann mehr in die Herzkammern. Er musste defibrilliert werden und an einen externen Herzschrittmacher angeschlossen.

Am Abend, um 19 Uhr, darf Bettina endlich zu ihrem Sohn, erneut allein wegen der Pandemie-Vorschriften. Er liegt auf der Intensivstation, beatmet und über und über bedeckt mit Kabeln und Schläuchen. Sie ist erleichtert, dass Nico lebt, doch der Anblick macht sie fertig. In dieser Situation sind die zuständige Schwester und die diensthabende Ärztin ihre Rettung: Beide erwarten sie schon an Nicos Bett, nehmen sie in den Arm, erklären den Ist-Zustand und was in den nächsten Stunden geschehen wird, betonen, dass sie jederzeit in der Nacht anrufen kann. „Das war wirklich hervorragend und ich bin dafür immer noch unendlich dankbar“, sagt Bettina, „weil: Man schafft das alleine einfach nicht“. In der Nacht kann sie die Sorge wieder mit Markus teilen, am nächsten Morgen ist sie zurück bei Nico. Der ist stabil, wird aber immer noch künstlich beatmet. Gegen Mittag muss Bettina aus dem Zimmer, ihr Sohn soll nun extubiert werden. Als sie nach einer halben Stunde wieder hineindarf, schaut er sie an, halbsitzend in seinem Bett, und begrüßt sie freundlich mit „Hallo Mama“. Noch heute schießen ihr bei der Erinnerung die Tränen in die Augen.

Es ist geschafft!
Eine Komplikation ist nun noch zu bewältigen: Schon in der Nacht nach der OP hatte Nico Fieber bekommen, das erfolgreich unterdrückt wurde. Nun kehrt es plötzlich zurück und es geht dem Jungen immer schlechter, er braucht sogar wieder Sauerstoff. Es ist das Dressler-Syndrom: Nicos Körper hat die Herz-Lungen-Maschine, an die er sechs Stunden lang angeschlossen war, als Fremdkörper wahrgenommen und wehrt sich nun. Die Ärzte probieren verschiedene Antibiotika aus und drei Tage nach der Operation ist es, als sei ein Schalter umgelegt worden: Das Fieber verschwindet und Nico, der gerade noch geschwächt in den Kissen lag, möchte gern etwas spielen. Von nun an geht es nur noch bergauf. Die Drähte des externen Herzschrittmachers, der zur Sicherheit noch auf Standby angeschlossen war, werden gezogen, wenig später auch die Wunddrainagen. Endlich nach Hause!

Dreieinhalb Jahre sind seitdem vergangen. Nico ist jetzt neun Jahre alt und führt ein absolut glückliches Kinderleben, ist immer bester Laune und viel unterwegs. Er spielt nach der Schule Schlagzeug und bei jeder Gelegenheit fährt er mit Markus, der ein Bauunternehmen betreibt, Bagger und Lader. „Er liebt einfach das Leben“, sagt Bettina und ist sich sicher: „Auch wenn er noch klein war, er weiß es deutlich mehr zu schätzen als gesunde Kinder“. Medikamente nimmt er nicht, doch seit der letzten Kontrolluntersuchung beim Kinderkardiologen steht fest, dass er irgendwann eine neue Aortenklappe benötigt. „Niemand kann derzeit sagen, wann das sein wird, also stellen wir das Thema erstmal in den Hintergrund“, erklärt Bettina die bewährte Familienstrategie. Zugleich wird ganz offen mit der Herzerkrankung umgegangen, auch die Zwillingsmädchen wissen Bescheid und fragen gelegentlich nach. Besonders, seit Nico mitentschieden hat, dass seine Geschichte nun aufgeschrieben wird. Er weiß, dass sein Herzfehler, der Shone-Komplex, sehr speziell ist. „Na klar, vielleicht hilft es jemandem, wenn er das liest,“ zitiert Bettina seine spontane Reaktion. Das hofft sie selbst ebenfalls, zumal sie seit Kurzem im Kuratorium der kinderherzen Stiftung Erlangen mitarbeitet, um Herzfamilien nach Kräften zu unterstützen: „Für Eltern eines Herzkindes sind Informationen das Allerwichtigste – und der Austausch mit anderen Betroffenen, denn nur die können die Situation wirklich nachempfinden“.

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Nicos Diagnose und aktuelle Situation:
Der Shone-Komplex ist eine Kombination von angeborenen Herzfehlern, in Nicos Fall handelte es sich um eine Aortenisthmusstenose (ISTA), zwei Ventrikelseptumdefekte (VSD), eine Fehlbildung der Mitralklappe und eine Unterentwicklung des Aortenbogens. Im Alter von drei Wochen wurde die ISTA durch eine End-zu-End-Anastomose korrigiert. Als Nico eineinviertel Jahre alt war, entdeckten die Ärzte dann Koronarfisteln, die per Herzkatheter verschlossen werden konnten. Die große Korrektur-Operation stand mit knapp sechs Jahren an: Bei dem erfolgreichen Eingriff wurde Nicos Subaortenstenose korrigiert, beide VSD verschlossen, der Aortenbogen gepatcht und die Mitralklappe rekonstruiert. Allerdings erlitt der Junge während der OP einen AV-Block dritten Grades, er musste defibrilliert werden und bekam vorübergehend einen externen Herzschrittmacher. Zudem entwickelte er das Dressler-Syndrom als Reaktion auf die Stunden an der Herz-Lungen-Maschine. Nach drei Tagen war die Entzündung durch die Gabe von Antibiotika wieder verschwunden und Nico erholte sich gut.
Die aktuelle Situation: Nico ist jetzt neun Jahre alt und führt ein ganz normales Leben. Er benötigt keine Medikamente oder Hilfsmittel. Es hat sich aber herausgestellt, dass er in den nächsten Jahren eine neue Aortenklappe bekommen muss.