Triggerwarnung. In dieser Herzgeschichte geht es um den Tod von einem Kind mit angeborenem Herzfehler.
“Somewhere over the rainbow”, erklingt es an diesem entsetzlichen Mittwochabend aus dem Autoradio. Das Lied kann Jessica auswendig mitsingen, unzählige Male hat sie es für ihre kleine Tochter Leni gesungen, um sie zu beruhigen … „there’s a land that I heard of once in a lullaby“. Die Bonner Uniklinik verschwindet langsam aus dem Rückspiegel. Und genau jetzt überrollt Jessica die unerträgliche Gewissheit: Dieses Lied wird sie ihrer Leni nie wieder vorsingen.
von Cornelia Schimmel
Acht Monate zuvor. Lenis Herz war von Geburt an krank – es litt an einem der schwersten angeborenen Herzfehler, dem Hypoplastischen Linksherzsyndrom. Jessica und ihr Mann Sebastian hatten von dem Herzfehler bereits während der Schwangerschaft erfahren.
Im November 2016 kam ihre Tochter per Kaiserschnitt in der Uniklinik Bonn zur Welt. Natürlich konnten sie sich nicht vorstellen, was auf sie und ihr herzkrankes Kind noch alles zukommen würde. Es war schwer genug zu begreifen, dass ihr Kind ohne mehrfache Operationen am Herzen nicht lebensfähig sein würde.
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Die überbrückte Herzoperation
Leni wurde zum ersten Mal am Herzen operiert, als sie erst wenige Tage alt war. Allerdings war sie noch zu leicht für die für ihren Herzfehler übliche Norwood-Operation, daher stabilisierten die Ärzte sie vorerst mit der sogenannten Giessen-Prozedur.
Es folgten vier kräftezehrende Wochen auf der Intensivstation, bis Leni endlich stabil genug war, um auf die Normalstation verlegt zu werden. Schon kurz darauf duften ihre Eltern ihr herzkrankes Kind zum ersten Mal mit nach Hause nehmen. „Es war die schönste Zeit mit Leni – außer ihrer Narbe hat man ihr nichts mehr angemerkt und wir hatten so viel Freude mit ihr.“
Die Familie machte es sich zu Hause gemütlich – Lenis wichtigste Aufgabe war nun zu wachsen und schwer und stark für die aufgeschobene Noorwood-Operation zu werden.
Tag X: Die Norwood-Operation
Monatelang hatten sie auf diesen Tag hingefiebert. Mit gemischten Gefühlen und klopfenden Herzen erreichte die Familie die Uniklinik Bonn. Papa Sebastian war zuversichtlich: „Ich war extrem angespannt, aber habe mir Mut zugesprochen. Ich hatte den festen Glauben daran, dass alles gut ausgehen wird.“
Die Herzoperation verlief planmäßig und für einen kurzen Moment schienen alle Sorgen der letzten Monate vergessen.
Leni geht es schlechter
Doch nur einen Tag nach dem Eingriff ging es ihrem Herzchen zusehends schlechter. In Lenis zarter linken Lungenarterie hatte sich ein Thrombus gebildet. Die Ärzte entfernten das bedrohliche Blutgerinnsel direkt, doch schon bald bildete sich ein neues. Und dann noch ein neues …
Insgesamt wurde mit sechs Herzkatheter-Eingriffen und zwei weiteren Operationen versucht, die Thrombenbildung in Lenis Venen und Arterien zu stoppen. Alles vergeblich. Ihre Eltern blieben unerschütterlich an Lenis Seite. Es gab nur noch eine letzte Chance, um Leni vor einem Lungenversagen zu retten – die Früh-Fontan-Operation. Diese Operation wird normalerweise erst im Alter von zwei bis drei Jahren durchgeführt. Doch die Ärzte griffen in der Ausweglosigkeit der Situation nach diesem letzten Strohhalm.
Wer kämpft, kann verlieren
Leni kämpfte. Doch ihr kleiner Körper war vom monatelangen Kampf ausgezehrt und hatte keine Kräfte mehr übrig.
„Die Hoffnung stirbt zuletzt – das Sprichwort passte zu Leni und uns. Wir haben immer gehofft … selbst am letzten Abend hatten wir noch an ein gutes Ende geglaubt. Wir haben bis zuletzt geglaubt, dass es gut ausgeht.“
Am 5. Juli 2017, diesem entsetzlichen Mittwoch, war es Frau Dr. Freudenthal, die leise die Wahrheit aussprach: „Es wird für Leni Zeit zu gehen.“
Jessica und Sebastian hatten seit der Diagnose Angeborener Herzfehler schreckliche Angst vor diesem Satz und nun war er ausgesprochen. „Wir blieben so lange bei unserer Tochter, wie es gut für uns war.“ Leni starb um 15:20 Uhr erschöpft in den Armen ihrer Eltern, während ihre Spieluhr leise „Somewhere over the rainbow“ spielte.
Was kommt danach?
In den nächsten Monaten schien alles dumpf. Die Trauer und die Leere, die Leni hinterließ, ist nicht in Worten auszudrücken.
„Nach Lenis Tod waren wir keinen Abend alleine, unsere Familien und Freunde haben uns sehr sachte aufgefangen und uns geholfen und uns jeden Tag gefragt, was sie uns Gutes tun können. Dafür sind wir sehr dankbar.“
Dass so eine Unterstützung leider nicht selbstverständlich ist, wissen die beiden verwaisten Eltern durch den Austausch mit anderen Eltern von Sternenkindern.
„Der Schmerz wird nicht besser, es wird nur erträglicher.“ (Sebastian über den Verlust seiner Tochter Leni)
Und trotz all der Unterstützung, fiel jede einzelne Stunde schwer. „Nach außen haben wir versucht weiterzuleben, innerlich waren wir völlig am Ende.“
„Die Leere, die Leni hinterließ ist heute noch zu spüren. Alles um uns herum erinnert uns an unser Sternenkind. So werden wir sie nie vergessen.“
Um die tiefe Trauer über den Verlust ihres Kindes zu bewältigen, suchten sie sich Unterstützung. Und dabei stellten sie fest, dass ihnen ganz unterschiedliche Ansätze gut tun. Während Jessica Trost und Rat bei der Selbsthilfegruppe für verwaiste Eltern fand, suchte Sebastian sich Hilfe bei einem Psychologen. „Für Jessi hat es gut funktioniert, sich mit anderen Eltern auszutauschen – ich dagegen brauche eine neutrale Person, die nicht auch noch ihre eigene Geschichte mitbringt.“ Auch die Verwaisten-Reha, die sie gemeinsam aufsuchen, hilft ihnen mit dem Verlust ihrer geliebten Leni umzugehen.
„Es hilft uns irgendwie, uns vorzustellen, dass Leni ein kleiner Schmetterling geworden ist, der irgendwo auf dieser Welt umherfliegt, andere Menschen erfreut und ab und auch bei uns zu Hause vorbeifliegt.“
Inmitten dieser fürchterlichen Zeit, in der sie manchmal nicht wussten, woher sie die Kraft zum Aufstehen nehmen sollten, mischte sich ein leiser Ton. Anfangs war er kaum mehr als ein sanftes Raunen, doch er wird lauter und er formuliert sich nach und nach zu einem Satz, der eines Tages laut ausgesprochen wird: „Wir wollen noch ein Kind.“
Kein leichter Weg
Dieser Satz gab ihnen neue Hoffnung, einen Antrieb. Doch es schien noch nicht die richtige Zeit für ein neues Baby zu sein. Sie versuchten es lange. Solange, bis sie die Hoffnung auf eine Familie fast aufgaben. „Mein Arzt hatte mir prophezeit, dass ich auf natürlichem Wege wohl keine Kinder mehr bekommen würde. Wir haben nichts ausgelassen und uns mehrfach im Kinderwunschzentrum beraten lassen. Sogar mit der Hormonbehandlung hatten wir bereits gestartet.“ Auch eine Adoption kam mittlerweile in Frage. ‚Wir wollen eine Familie gründen.‘ Das stand für die beiden felsenfest.
Grund zur Freude! Oder doch nicht?
„Die fertig ausgefüllten Anträge für die Adoption lagen schon bei uns auf dem Küchentisch und mussten nur noch weggeschickt werden. Und dann war mein Schwangerschaftstest positiv.“ Sebastian und Jessica starrten den blassen Streifen ungläubig an. „Wir waren total skeptisch und konnten uns gar nicht unbefangen freuen, unsere Gedanken waren sofort wieder bei Leni“, wissen sie noch ganz genau. Dennoch wollten sie positiv bleiben. ‚Wenn es Wunder gibt, dann wird schon alles gut sein‘, sagten sie sich immer wieder.
Gefangen im eigenen Albtraum
Nach 20 emotional wechselhaften Schwangerschaftswochen endet ihre Zuversicht jäh. Es ist dieser eine Satz, der ihnen bei einer Routineuntersuchung erneut den Boden unter den Füßen nimmt: „Ihr Kind hat leider wieder einen Herzfehler.“ Der neue Feind heißt Pulmonalatresie vom Typ Fallot mit Kammerscheidendefekt.
„Es war wie ein Sog zurück in den Albtraum. Für uns hieß es: Unser Kind hat wieder einen Herzfehler, es wird sicherlich auch sterben. Alles, was wir mit Leni durchlebt haben, war augenblicklich wieder so präsent, als wäre gar keine Zeit vergangen.“
Anni ist da!
Die kleine Anni kommt, genau wie ihre Schwester, in Bonn per Kaiserschnitt zur Welt. „Es war rührend, wie sehr alle in der Klinik mit uns mitgefiebert haben. Alle erinnerten sich noch sehr gut an Leni und gingen sehr behutsam mit uns und Anni um.“
Und Anni schafft es. Auch sie musste nach wenigen Lebenstagen einen Herzkatheter-Eingriff überstehen. Sie nahm schnell an Gewicht zu, sodass sie stark genug ist für die geplante Korrektur-Operation.
„Obwohl bei Anni alles gut lief, war jeder Tag in der Klinik gefühlsmäßig schlimm. Unser Dank geht an das gesamte Team der Bonner Kinderintensivstation – sie alle haben sich so gut um uns gekümmert.“
Schon bald können Jessica und Sebastian ihre Tochter mit nach Hause bringen. Anni entwickelt sich sehr gut, doch die leise Skepsis werden ihre Eltern nicht ganz los. „Wir wissen, dass es nicht mehr notwendig ist, aber wir trauen uns noch nicht bei Anni nachts das Pulsoxymeter* wegzulassen.“ Momentan arbeiten sie daran, ein bisschen Normalität in ihr Leben zu bringen.
„Wir haben zwei Töchter mit Herzfehler. Eine hier bei uns und eine im Himmel.“
Anni ist mittlerweile sechs Monate alt und ein fröhliches und aktives Mädchen. Sie wächst behütet inmitten der Erinnerungen an ihre Schwester Leni auf. „Leni hat Anni Kraft für den Start ins Leben gegeben, da sind wir uns sicher!“ Ihre Eltern erzählen Anni viel von ihrer unsichtbaren Schwester. „Leni wird immer ein großer Teil von uns allen sein. Sie ist unser Schutzengel!“
Sebastian baut im Garten einen Sandkasten für Anni. Direkt daneben wird er einen Schmetterlingsflieder pflanzen.
Hilfe für herzkranke Kinder wie Leni und Anni. Ihre Spende hilft.
Mehr über unsere Arbeit für herzkranke Kinder erfahren.
Hier können Sie Hilfe finden, wenn Sie selbst den Verlust eines Kindes erlitten haben:
- Bundesverband verwaister Eltern: https://www.veid.de/
- Leben ohne Dich – Bundesorganisation verwaister Eltern: https://www.leben-ohne-dich.de/
- Oskar Sorgentelefon: 0800 / 8888 4711 https://www.oskar-sorgentelefon.de/