Von Beginn an ein tapferer Kämpfer: Herzkind Henri

Noch vor seiner Geburt wird bei Henri das Hypoplastische Linksherzsyndrom diagnostiziert. Zu der Zeit kennt seine Mutter Anika aus der Arztpraxis, in der sie arbeitet, ein Kind mit der gleichen Erkrankung. „Na gut, dann schaffen wir das“, ist sie überzeugt. Obwohl bei Henri wiederholt schwere Komplikationen auftreten, hat sie rechtbehalten.

Als Anika und Stefan zum ersten Mal ganz konkret um Henris Leben bangen, ist er noch nicht mal geboren: Es ist die 23. Schwangerschaftswoche und die Pränataldiagnostik hat gezeigt, dass ihr Sohn eine kritische Aortenklappenstenose (AS) hat, eine Verengung zwischen der linken Herzkammer und der Körperschlagader. Nun liegt Anika in der Uniklinik Bonn auf dem OP-Tisch, lokal betäubt durch eine Periduralanästhesie (PDA). So erlebt sie anderthalb Stunden lang live mit, wie die Ärzte das Baby in ihrem Bauch in die richtige Position schubsen, es mit einer Spritze in den Popo sedieren und dann mit einer langen Nadel durch ihre Bauchdecke hindurch einen Katheter bis in sein winziges Herzchen vorschieben, um die zu enge Aortenklappe aufzudehnen. Der Eingriff glückt, doch plötzlich geht es Henri schlechter. Die Ärzte hatten die werdenden Eltern gewarnt, dass sie in diesem Fall nichts für ihn würden tun können, nichts als abwarten und hoffen.  In den nächsten Stunden bewältigt der Winzling diese erste schwere Aufgabe und kämpft sich aus der Krise heraus, es wird nicht die letzte sein.

Der weitere Verlauf der Schwangerschaft ist, abgesehen von der psychischen Belastung, unauffällig. Henri erholt und entwickelt sich gut in Anikas Bauch, beobachtet in regelmäßigen Kontrolluntersuchungen. Ein paar Wochen vor dem errechneten Geburtstermin steht die Diagnose fest: Hypoplastisches Linksherzsyndrom (HLHS), einer der schwersten angeborenen Herzfehler. Dabei sind Strukturen der linken Herzhälfte, die für die Blutversorgung des Körpers zuständig ist, zu klein ausgebildet oder unterentwickelt. Anika hat selbst jahrelang als Arzthelferin beim Kinderkardiologen gearbeitet und Herzkinder mit betreut. „Es ist ‚nur‘ ein Herzfehler“, spricht sie sich und Stefan immer wieder Mut zu. Da die Familie, zu der auch Paulina, die große Schwester in spe, gehört, hundert Kilometer von Bonn entfernt im Hunsrück lebt, wird die Geburt vorsichtshalber schon in der 39. Schwangerschaftswoche eingeleitet. Die Wehen setzen wie geplant ein, doch nach zehn Stunden geht es nicht weiter voran und Henri wird per Notkaiserschnitt auf die Welt geholt. Für ihn die genau richtige Mischung, denkt Anika heute, „er bekam mit, dass etwas passiert, musste das letzte schwere Stück Weg aber nicht mehr alleine schaffen“.

Hen

 

Viel Sorge in der ersten Zeit

Henris Start ins Leben bleibt beschwerlich: An seinem dritten Tag holen sich die Ärzte früh morgens das Einverständnis für eine Notoperation. Sein Zustand hat sich über Nacht so verschlechtert, dass sofort ein Banding der Pulmonalarterie (PAB) gemacht werden muss. Es reduziert den Blutfluss in die Lunge und sorgt dafür, dass auch die untere Körperhälfte mit Sauerstoff versorgt wird. Der Eingriff gelingt, doch in den nächsten zwei Wochen auf der Intensivstation haben Anika und Stefan jeden Morgen aufs Neue schlechte Nachrichten zu verkraften: Mal hat Henri Fieber, mal verschiedenste Ausschläge in allen Größen und Formen. Niemand weiß, woran das liegt und das Paar mag kaum noch nachfragen, wie die Nacht verlaufen ist. Erst an Henris zwölftem Lebenstag hat ihn sein Vater das erste Mal auf dem Arm, das war bis dahin wegen der schlechten Werte des Kleinen nicht möglich gewesen.

Nur einen Tag später wird die Norwood Operation durchgeführt. Das ist der erste von insgesamt drei Eingriffen, die Henris Herz auf ein Einkammersystem umstellen sollen, den sogenannten Fontankreislauf. Denn da die linke Herzhälfte ihrer Funktion nicht gerecht werden kann, muss die rechte Hälfte ihre Aufgaben übernehmen. Nach der OP geht es endlich bergauf und Henris Zustand stabilisiert sich. Mit vier Wochen wird er auf die normale Station verlegt, mit sechs Wochen darf er nach Hause, das Leben als vierköpfige Familie kann starten. Es ist nicht einfach zu Beginn: Paulina, selbst erst 21 Monate alt, hat sich über die Wochen trotz möglichst vieler Klinikbesuche mit Papa und Oma sehr von Anika entfernt. Sie versteht nicht, warum ihre Mutter erst so lange weg ist und dann dieses ständig brüllende Bündel mit nach Hause bringt, das so unglaublich viel Aufmerksamkeit braucht. Schlafen kann Henri zu der Zeit nur mit Körperkontakt zu Anika, nimmt sie ihm diesen Kontakt, beginnt er zu schreien. Und genau das soll sie vermeiden, um sein Herz zu schonen. Um den Lebensunterhalt zu sichern, muss Stefan mittlerweile wieder zur Arbeit und oft weiß Anika dann nicht, wie sie mit den zwei kleinen Kindern über den Tag kommen soll. Doch irgendwie muss es ja weiter gehen.

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Schritt für Schritt zum Fontankreislauf

Als Henri ein knappes halbes Jahr alt ist, folgt der zweite große Eingriff, die Glenn-Anastomose. Sie dient dazu, die rechte Herzhälfte, die bisher vermehrte Arbeit leisten muss, zu entlasten und wird erneut am offenen, nichtschlagenden Herzen durchgeführt. Auch diesmal läuft alles glatt bis auf, dass bei der Operation eine Zwerchfellparese entsteht: ein Hochstand des Zwerchfells, durch den sich die Baucheingeweide verlagern können. Doch dies scheint keine Auswirkungen zu haben und nach neun Tagen kann Henri die Klinik verlassen. Er entwickelt sich eher schlecht in seinen ersten Lebensjahren, ist stark untergewichtig und braucht viel Zeit, um Krabbeln und Laufen zu lernen. „Wir waren mit ihm beim Physiotherapeuten und Osteopathen, haben alles an Förderung und Therapie mitgenommen“, erinnert sich Anika, „und waren immer so stolz auf ihn, wenn er wieder etwas Neues geschafft hat“. Aufgeben kommt für Henri nämlich nach wie vor nicht in Frage, mit 26 Monaten kann er sogar einen Regelkindergarten besuchen, eine Integrationskraft begleitet und unterstützt ihn. Ihr sind Anika und Stefan bis heute sehr dankbar für ihren Einsatz, der dem Jungen so viel Normalität und gute Erfahrungen ermöglicht hat.

Henri ist dreieinhalb Jahre alt, als die Fontan-OP (TCPC) durchgeführt wird, die letzte der drei großen Operationen. Sie vollendet die Herstellung der Fontan-Zirkulation: Das Blut fließt jetzt aus dem Körperkreislauf direkt und ohne unterstützende Herzkammer, allein durch den Venendruck, in die Lunge, wird dort mit Sauerstoff angereichert und von der einen funktionstüchtigen, der rechten Kammer also, wieder in den Körperkreislauf gepumpt. Auch dieser Eingriff verläuft nach Plan, Lungen- und Körperkreislauf sind nun ganz voneinander getrennt. „Wir hatten das Gefühl, jetzt endlich durchatmen und das Krankenhaus-Kapitel hinter uns lassen zu können“, lächelt Anika. Die Familie verbringt einen wunderschönen Urlaub auf Sylt, hängt noch eine familienorientierte Reha im Ostseebad Boltenhagen an und kehrt voller Kraft und Optimismus zurück. Doch schon sechs Wochen später wendet sich das Blatt wieder.

Henri 3

 

Immer wieder Ungewissheit

Hektisch ruft Paulina da ihre Eltern in den Garten, weil ihr Bruder plötzlich aus Nase und Mund blutet. Ein Trampolinunfall, denken Anika und Stefan zunächst. Aber der Vorfall wiederholt sich nach einigen Tagen, so stellen sie Henri lieber doch in der Klinik vor. Die Ärzte sind zunächst ratlos, nach ein paar Tagen finden sie heraus: Das Blut kommt aus der Lunge, ausgelöst durch kollaterale Blutgefäße, die sich dort gebildet haben. Per Herzkatheter werden die Kollateralen verschlossen, die Blutungen hören auf und zwei Wochen später wird Henri entlassen. Kurz darauf dann die nächste Auffälligkeit: Immer wieder lagert der kleine Junge rund um die Augen Wasser ein. Dann stürzen auch noch seine Eiweißwerte ab und müssen in der Klinik aufgefüllt werden. Nach und nach wird eine Befürchtung laut: Es könnte sich um Failing Fontan handeln, das Versagen des Fontan-Kreislaufs. Dieses Eiweißverlust-Syndrom ist eine lebensbedrohliche Folgeerkrankung, die bis zu zehn Prozent der Herzkinder nach einer Fontan-OP betrifft.

Sieben Jahre begleitet ihn die Verdachtsdiagnose nun, Henris Leben seitdem ist ein herausforderndes Auf und Ab. Immer wieder übersteht er schlimmste Zwischenfälle und Rückschläge. Nach einem Bluthusten benötigt er Blutkonserven, entwickelt eine Lungenentzündung und verbringt zwei Wochen im künstlichen Koma, bis er endlich extubiert werden kann. Danach braucht er eine Weile, um wieder laufen, alleine essen und sprechen zu lernen. Unzählige Herzkatheter, MRTs, Transfusionen und Medikamentenumstellungen durchlebt der kleine Junge, leidet wiederkehrend unter Wassereinlagerungen, Durchfällen und schwankenden Eiweißwerten. Als die Bonner Kinderkardiologie zu Beginn der Corona-Pandemie in einen Neubau umzieht, probiert Henri in kürzester Zeit jedes Zimmer aus, pro Neuaufnahme ein weiteres, bis endlich die Stellschraube gefunden wird, die ihm diesmal hilft. Weil er die Ärzte und Pfleger in Bonn seit seiner Geburt kennt, haben die Aufenthalte für ihn fast familiären Charakter. Er liebt es, in der Klinik zu sein, obwohl er dort so viel aushalten muss. Selbst einen Aufenthalt von vier Wochen, der ursprünglich nur für eine Woche angesetzt war, nimmt er geduldig hin: Die Zwerchfellparese, die er sich acht Jahre zuvor zugezogen hat, wird nun doch operiert. Aber es treten Komplikationen auf, erst ein Pneumothorax (Luft im Brustkorb), dann fließt die Lymphe nicht ab, so dass Henri noch eine zusätzliche Not-OP braucht. Immerhin stabilisiert die Zwerchfellstraffung für eine ganze Weile den Eiweißhaushalt.

 

Positiv in die Zukunft

Inzwischen ist Henri zehn und besucht seit vier Jahren eine Förderschule für körperlich eingeschränkte Kinder. Sein letzter Bluthusten liegt drei Jahre zurück, doch das Eiweißverlustsyndrom quält ihn erneut immer wieder. „In Bonn kämpfen manche Kinder seit Jahren damit“, berichtet Anika, „wir haben es bei Henri immerhin nur mit Phasen zu tun“. Noch ist dieses Problem nicht allzu gut erforscht, es scheint aber mit dem Druck im Gefäßsystem zusammenzuhängen. Zuletzt haben es die Kardiologen in mehreren Anläufen geschafft, ein kleines Loch in Henris Herz zu bohren, das wie ein Überdruckventil wirkt. Damit dieses sich nicht wieder schließt, stellt seine Mutter ihn gerade auf das blutverdünnende Medikament Marcumar ein, das er nun zusätzlich zu zwölf weiteren täglichen Medikamenten bekommt. Angst macht ihr und Stefan momentan vor allem die bevorstehende Teenagerzeit, „weil viele Kinder mit Eiweißverlustsyndrom durch die Hormonveränderung große Probleme bekommen, nicht richtig wachsen, aus Schüben nicht mehr herauskommen oder psychische Probleme entwickeln“. Auf Anraten der Bonner Ärzte haben sie kürzlich Kontakt zu einem Transplantationszentrum aufgenommen, wollen Henri dort vorstellen und untersuchen lassen für den Fall, dass er einmal ein Spenderherz braucht.

Die schlechten Phasen mit Klinikbesuchen und voller Unsicherheit fordern die Familie enorm. Doch Anika und Stefan legen Wert darauf, dass sie und die Kinder ansonsten ein ganz normales Leben führen und natürlich „nicht alles immer nur schlimm und schrecklich ist“: Wann immer es geht, fahren sie gemeinsam in den Urlaub, sind sogar schonmal nach Menorca geflogen. Stefan arbeitet in Vollzeit, Anika leitet für den Kinderkardiologen, der sie vor 18 Jahren ausgebildet hat, in Teilzeit eine Praxis an einem Zweigstandort, nebenbei gibt sie Fit-dank-Baby-Kurse. Paulina, die so oft zurückstecken musste, hat sich zu einer selbstständigen, hilfsbereiten Zwölfjährigen mit starker Persönlichkeit entwickelt, die toll mit der Situation und ihrem Bruder umgeht. Henri hinkt zwar in seiner Entwicklung etwas hinterher, wird mit seinen zehn Jahren eher auf sieben geschätzt, doch er macht seinen Weg, schreibt, liest, findet Mathe doof – und ist vor allem ein glückliches Kind, das nie aufgibt und nur äußerst selten seine gute Laune und höfliche Art verliert. Zu viert haben sie abends am Esstisch ein Ritual: „Drei schöne Dinge, fang an“, sagt einer von ihnen dann, und jeder trägt bei, was er gut fand an diesem Tag.

Henri mit Familie

Henris Diagnose und aktuelle Situation

Der heute zehnjährige Henri überstand seinen ersten Eingriff, die Aufdehnung der Aortenklappe, bereits als ungeborenes Baby im Mutterleib. Er kam mit einem Hypoplastischen Linksherzsyndrom (HLHS) zur Welt, mit nur einer funktionellen Herzkammer also. Dies führte dazu, dass arterielles und venöses Blut permanent durchmischt wurden, an seinem dritten Lebenstag rettete ihn ein Pulmonales Banding (PAB) vor der Überflutung der Lunge. In drei großen Operationen (Norwood-OP, Glenn-OP und Fontan-Komplettierung), zwei davon unter Einsatz der Herz-Lungen-Maschine, wurde sein System in den folgenden dreieinhalb Jahren zu einem funktionierenden Fontan-Kreislauf umgebaut. Doch es kam in der Folge wiederholt zu Komplikationen wie Bluthusten, Wassereinlagerungen und bedrohlichen Eiweißverlusten. Immer wieder schafften Herzkathetereingriffe, Medikamentenumstellungen und eine Zwerchfellstraffung für eine Weile Abhilfe. Doch es besteht der Verdacht, dass es sich um einen Failing Fontan handelt, einen fehlgeschlagenen Fontan.

In den letzten Jahren wechseln sich bei Henri gute Phasen, in denen er ein normales Leben führt, ab mit teils wochenlangen Krankenhausaufenthalten und schlechten Verläufen. Eine zuverlässige Prognose gibt es nicht, da das Eiweißverlustsyndrom noch nicht ausreichend erforscht ist.